Kunstwerk von Sabine Hilscher

photo courtesy of Afroditi Festa

Sabine Hilscher // STILLE IM GEGENLICHT, Prosa Miniaturen

2022

Text

Stille im Gegenlicht

 

Die Gräser zittern im Wind. Jedes einzelne vibriert für sich hin und her, als wäre der Boden elektrisiert. Die unendliche vielen kleinen Striche reiben sich aneinander wie Heuschreckenbeinchen, im Wind ist aber kein Zirpen zu hören, noch nicht einmal ein Rascheln oder Knistern. Die kleinen flaumigen Köpfchen der Grashalme neigen und drehen sich flatternd, als würden sie sich einander zurufen. Auf der Piazza hier zwischen den Birken müssten diese Stimmen doch zu hören sein. Gräserne Wortfetzen, die schneidenden hellen Stimmen, die sich aus dem großen Teppich der Menge herausheben. Aber es bleibt still. Nur das Rauschen des Windes zittert weiter durch die Halme und wiegt die kleinen puscheligen Köpfchen hin und her.

An der Innenseite der Halme ein Hohlraum, in dem die Zeit eingeschlossen als Säule in der Landschaft herumsteht. Ganz gerade nach oben gewachsene Lebenszeit. Trocken ist es hier drinnen. Das Licht dringt nur wie durch geschlossene Augenlider ins Innere und gibt der Säule einen warmen Farbton. Der Wind ist kaum zu spüren, das leichte Schwanken verursacht komischerweise keine Seekrankheit, sondern wiegt die eigenen Gleichgewichtsorgane wie in einer Hängematte hin und her. Das Bedürfnis sich ständig fortzubewegen, die Welt aus unterschiedlichen Standpunkten aus zu betrachten und zu erleben, verschwindet hier Innen vollkommen. Der eigene Atem hallt ein wenig nach, die Erhabenheit einer Kathedrale umschließt hier drinnen jedes kleine Geräusch und trägt es an den dünnen Wänden entlang in die Höhe. Beim Blick nach oben flackert die Sonne hinter den feinen Blütenständen des Halms. Wie in einem Schacht flirren Licht und Schatten hinter den kleinen punktförmigen Öffnungen, durch die man erstaunlicherweise ganz leicht wieder in die Außenwelt hinausgreifen kann. Der Gräserflaum kitzelt am Handgelenk und das warme Licht bricht sich auf den Fingernägeln. Zurück im Wind, steht man wie in einer großen Menschenmenge, direkt nachdem einem jemand die Bettdecke weggezogen hat. Blinzelnd und erschrocken kann man von Gräserkopf zu Gräserkopf blicken, dem trockenen grasigen Geschmack nachspüren und doch versteht man bei aller Anstrengung die Sprache und diese feine zitternde Bewegung der Gräser immer noch nicht. Dafür haben sich unbemerkt auf der Innenseite des eigenen Körpers feine Spuren eingeprägt. Spuren von Stille im Gegenlicht.