Kunstwerk von Sabine Hilscher

Innenohr

Als ich mein Ohr wieder vom Boden lösen wollt, fühlte es sich weicher an als vorher. Der obere Rand meines Ohres war schon immer wie ein kleines Schirmchen gekrümmt. Angenehm weich und mit Haut bezogen. Doch das Ohr ließ sich nicht mehr von den unterirdischen Geräuschen trennen. Unhörbar hatten sich die Innenohrkanäle mit allen Adern und Kapillaren mit dem ständig wachsenden Untergrund verwurzelt. Die sonst so glatte Knorpelfläche hatte sich seidig aufgefächert. Eigentlich wollte ich nur kurz am feuchten Boden hören, ob die Wurzeln beim Wachsen wirklich dieses feine schiebende Geräusch verursachen, das ich mir in meinem Innenohr so oft vorstelle.

Dieses Geräusch entsteht manchmal auch fein sirrend in der Wade, wenn die lehmige Erde unter einem nachgibt und der Fuß ein wenig in den Boden einsinkt.

(Es entsteht auch manchmal in den Rückenwirbeln, wenn sie sich bei langem Stehen auf Beton in die Länge schieben und versuchen, den Druck des eigenen Körpergewichts durch den Bodenbelag in die darunter liegende weiche Erde abzugeben. Es entsteht manchmal kaum hörbar beim Gehen über Gras, wenn die feinen Muskelfäden im Knöchelgelenk die hügeligen Unebenheiten der Grasbüschel ausgleichen. )

Mit dem Ohr am Boden schien der eigene Körper Teil des unterirdischen Gesamtklangs zu werden. Durch die Membran des Trommelfells verstärkten sich die flirrenden pulsierenden Wurzelschallwellen und mischten sich mit dem eigenen Herzschlag. Das Rauschen von Flüssigkeiten, Zellteilungsknistern, verdunstendes Wasser. Dumpfe Beats direkt unter der Hörgrenze flirrten aus dem feuchten Lehmboden direkt in mein Ohr, kein bisschen hatten sie mit dem Geräusch zu tun, dass ich erwartet hatte.

Schlag für Schlag vergrößerten sie die knorpeligen Ohrteile, fächerten die geschlossene weiche Oberfläche immer weiter auf. -  In feine Lamellen gegliedert, hatte sich der gesamte obere Teil des Ohres in einen hellen Pilzkörper verwandelt.