Kunstwerk von Sabine Hilscher

photo courtesy of Afroditi Festa

Sabine Hilscher // IN DIE PILZE, Prosa Miniaturen

2021

Text

In die Pilze

 

Am Wochenende war es immer schwierig. Besonders, wenn es feucht und warm war. Spätherbst war besonders schlimm. Dann verschwand er immer in die Pilze. Wie das genau vor sich ging konnte ich nie beobachten. Schlüpfte er direkt unter der Hutkante in die Pilze? Zwängte er sich zwischen die Lamellen wie durch ein U-Bahn-Abluftschachtgitter? Oder konnte er direkt an dem sandigen Übergang der holzigen Stielverdickung entlang in die Pilze verschwinden?

War man mal drin, schlug einem die tropische Feuchte entgegen, die sonst nur vor den gläsernen Schiebetüren der Ankunftsterminals internationaler Flughäfen wartet. Dort öffnet sich mit einem automatischen Lichtschrankensignal beim entscheidenden Schritt in eine andere Klimazone gewöhnlicherweise eine gläserne Schiebetür, die die mitgebrachte gefilterte Kunstluft  von der vor Photosynthese fast tropfenden Hitze trennt.  Bei einem solchen Schritt scheinen die Lungenbläschen mit dem ersten Atemzug beim Schritt ins Freie zu verkleben.

Der entscheidende Schritt in die Pilze beginnt mit einem sporengefüllten betörenden Atemzug. Und dann ist man auch schon drin. Doch wie findet man sich in diesem System aus Kapillaren, Hyphen und Netzwerkstrukturen zurecht? Wie kann man in den Pilzen sichergehen, dass man nicht versehentlich durch ein Mykorrhizageflecht in eine symbiotische Einbahnstraße gerät, die sich an der Wendeplatte als parasitär herausstellt und man Gefahr läuft für immer in einer Baumwurzel oder direkt unter der Rinde stecken zu bleiben? Wie kann man in diesem haltestellenlosen Nahverkehrsnetz sicher gehen, dass man in den feinen Wurzelgeflechten nicht von einer Ladung Phosphor auf freier Strecke lautlos in den Untergrund gedrückt wird? Oder spinnnetzartig von einem nahrungssuchenden Schimmelpilz umschlossen und zu köstlichem Humus verarbeitet, als Wurzelfaden benutzt und zwischen Baumgruppen als Kommunikationsnetz gespannt wird? Er hat nie darüber gesprochen. Mit einem seltsam verklärten Gesicht und duftenden Händen kam er immer aus den Pilzen zurück. Ein kleines Messerchen hatte er aber zur Verteidigung immer dabei gehabt.

 

 

In die Pilze II

 

Mit diesem Messerchen schnitt er selig die Beute in kleine Stücke, wenn er aus den Pilzen zurück war. Schabte Erdkrümel von deren bleichen hautigen Oberfläche und schwelgte in buttriger Erinnerung an jeden einzelnen Fundort. Jeder Pilz in seiner Hand ein Beweis für den Augenblick - direkt zwischen dem zurückliegenden Moment der Trennung des Fruchtkörpers von seinem Netzwerk und dem bevorstehenden Schauder, ob versteckte Gifte, heimtückisch den ganzen eigenen Körper niederstrecken würden.

„In die Pilze gehen“ benutzte er auch als Bezeichnung für das Essen von selbstzubereiteten Pilzgerichten. Erwartete er toxische Kombinationen der gebratenen Pilzen mit alkoholischen Getränken, die ihn selbst in Nährboden für weiteres Pilzwachstum, für neue Netzwerke und Geflechte verwandeln würde?.

Lag der Reiz der Zubereitung von Pilzpfannengerichte in der Vorstellung, dass die Pilze seine bleiche Haut durchwachsen und neue Wurzeln bilden? Die Wege durch das eigene Gehirn sichtbar machen und die eigene Existenz in ein Netzwerk gebettet erscheinen lassen, die das Bewusstsein in eine fliessende Masse grösser als das australische Hallimaschgeflecht verwandelt? Ich habe nie davon gekostet – ich glaube „In die Pilze“ ist eine Einbahnstrasse. Ich hab ihn jedenfalls nie „aus den Pilzen“ hören sagen.