Kunstwerk von Sabine Hilscher

photo courtesy of Sabine Hilscher

Sabine Hilscher // IM BAUM

2021

Collage, Zeichnung, Tusche, Leim

50 x 30 cm / 19,7 x 11,8 inches

In meiner Arbeit suche ich kontinuierlich nach Verknüpfungen und Vielschichtigkeiten – sowohl zwischen den künstlerischen Mitteln und Disziplinen in der Form als auch zentral thematisch und inhaltlich. Dabei geht es um die netzwerkartigen Strukturen, die unsere Wahrnehmung mit Emotionen, den anatomischen Gegebenheiten, biologischen, politischen und urbanen Strukturen verbinden. In meinen Zeichnungen und Collagen überlagere ich diese Themen. Einigen Bildern liegen Prosatexte zugrunde, die ich im Wechselspiel zwischen sprachlicher und visueller Umsetzung schreibe.

Zentral beschäftigt mich die genaue Wahrnehmung unserer Umwelt, der Phänomene, die uns im Alltag begegnen und eine Verknüpfung mit unserer Phantasie, neuen Blickwinkeln, Perspektiven und Sichtweisen. Es geht uns das Sichtbarmachen von Möglichkeiten, die wie eine zweite Ebene unter dem liegen, was offensichtlich ist.

Viele meiner Papierarbeiten sind aus mehreren Schichten aufgebaut, die wie Wahrnehmungs- oder Erinnerungsablagerungen aufeinander liegen und sich zu einem neuen Bild an der Oberfläche verbinden: Abdrücke von aufgerissener trockener Erde, die wie ein Labyrinth, Gehirnwindungen oder Netzwerk unter allem liegen, gezeichnete anatomische Details des menschlichen Körpers und Cut outs aus Landkarten, Tageszeitungen und Naturabbildungen spiegeln die Mehrschichtigkeit unserer menschlichen Existenz. In den Bildern versuche ich, Eindrücke aus dem Alltag, Erinnerungen und körperliche/emotionale Zustände wie kaleidoskopartige Übereinanderschichtungen immer wieder neu zusammenzufügen.

Sabine Hilscher 2022

 

im Baum

 

In den letzten Resten der Februarabendsonne klemmte dort mit dem Gesicht in den Buchstaben ein Junge im Baum. Wie eine Mistel saugte er dort in der Astgabel die Buchstaben aus den Buchseiten, als könne er all die verpassten Schulstunden durch Photosynthese in letzter Minute und einem parasitären Geniestreich nachholen. Wort für Wort löste er behutsam aus der weichen Schicht aus Satzstrukturen direkt unter der Rinde heraus und ließ sie in seinen Organismus sickern. Kleine neue Gehirnverbindungen schlugen pilzfadenartige Brücken zwischen den Synapsen, umschlangen die Wurzeln des schon im Kopf Verankerten und bildeten phantastische leicht fluoreszierende Gedankenkörper. Das Verstehen der Materie erschien ihm wie das Ausbilden eines neuen Fruchtkörpers aus den unendlichen Buchstabenfäden eines Mykorrhizageflechtes. Die Nährstoffe aus der aufsteigenden Flüssigkeit im Baumstamm schienen durch seine Kleidung hindurch eine Art Düngeeffekt zu bewirken. Im symbiotischen Gegenzug ließ er unbewusst ein wenig seiner Körperwärme in den Stamm fließen und lockte dadurch die wertvollen Zuckerverbindungen und Phosphormoleküle direkt in die Astgabel, die Adern, die Lungenbläschen und Nervenbahnen. Kühl und rau pikste die schuppige Rinde unter dem dünnen Hosenstoff. Etwas unbequem war die hockende Haltung dort in der schmalen Astgabel. Hinderte ihn aber doch träge und müde zu werden. Wenn nun der letzte Sonnenstrahl noch im richtigen Winkel die Satzzeichen streift, flammen sie kurz auf und verteilen ihre Sporen in alle Gehirnwindungen.

Text: Sabine Hilscher