Kunstwerk von Sabine Hilscher

photo courtesy of Sabine Hilscher

Sabine Hilscher // DIE ROTEN STRASSEN

2022

Papierschnitt aus Landkarten

40 x 30 cm / 15,7 x 11,8 inches

In den feinen Landkarten-Papierschnitten sucht Sabine Hilscher die Resonanz des menschlichen Körpers in Verbindung mit seiner Umgebung einzufangen. Dabei interessiert sie besonders, welche Verbindungen wir als Menschen untereinander haben, was für Geflechte aus unseren Beziehungen und unseren Bewegungen entstehen und wie sie sich im eigenen Körper manifestieren. In der ANATOMIE-Serie arbeitet Sie LandkartenCutOuts in Organe um. Die Zentren unserer Lebensfähigkeit, in die sich Erlebtes über die Lebenszeit einschreibt. Mit den feinen ausgeschnittenen roten Papieradern zeichnet sie aus den Netzwerke unserer Lebensbewegungen die Aderngeflechte und ihre plastische Form nach.

Auf alten gedruckten Landkarten finden sich immer Krümmungen und Anschlussstellen, die geografische Gegebenheiten nachzeichnen und oft verblüffende Ähnlichkeiten mit den Aderstrukturen des menschlichen Körpers aufweisen. Das fein geschnittene Papier hat wiederum als organisches Material ein statisches Eigenleben, aus dem sich die plastischen Krümmungen und Rundungen der Organstrukturen in einem diffizilen Arbeitsprozess nachformen lassen. Diese Resonanz der großen Strukturen als Klang in den feinen Papieradern einzufangen und die Bezüge in uns nachhallen zu lassen, liegt in der Absicht ihrer Arbeiten. 

Sabine Hilscher/Haus des Papiers Berlin 2022

 

LANDKARTEN

 

Die roten Straßen sind die besten. Gut asphaltiert und mit einer breiten Fahrbahn. Ein Mittelstreifen aus weißen kleinen Blockstreifen erscheint bei schneller Fahrt als durchgezogene Linie, beim genauen Hinsehen pulsieren die kleinen Lücken zwischen den Streifen etwas schneller als der eigene Herzschlag. Schneidet man die roten Straßen säuberlich an den Begrenzungslinien aus dem Atlas aus, bleibt ein feines Netz aus roten Adern, die man sich direkt unter die Haut legen kann.

Mineralstoffe und Kohlendioxid werden dann schnell und sicher um die Erhebungen aus Zellen und Muskeln durch die Knochenlandschaft transportiert. Große Steigungen werden auf den roten Straßen vermieden, der Verkehr soll ruhig und gleichmäßig zu jeder Tages- und Nachtzeit fließen. Durch das neue zusätzliche Aderngeflecht entstehen Umgehungsstraßen, die die großen Organknotenpunkte wie Großstädte meiden und die Langstreckenversorgung unterstützen. An den Übergängen aus dem zweidimensionalen roten Papiernetz in die prall gefüllten pulsierenden Adern kommt es manchmal zu Stau. Kleine Ablagerungen aus verlorener Fracht kleben sich dann dort an die Seitenwände und drohen bei Verschluss ganze Körperteile unter zu versorgen. Bergregionen haben sich für ungünstige Wetterlagen meist eine zweite Zufahrtsstaße oder einen Tunnel ins Gebirge geschlagen. Um das Schultergelenk herum lassen sich solche Engpässe aber nur schwer ausgleichen, denn die Hand, die schnell ein paar neue Straßen ausschneiden könnte, ist flach wie Papier geworden und lässt sich nur noch zwischen den verbliebenen Seiten des dicken Straßenatlases aufbewahren.

Text: Sabine Hilscher